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FRANK SCHÄPEL

Notizen zwischen Kunst und Wissenschaft
Katalogbeitrag zur "missing link"-Ausstellung (Berlin/New York 2005/06)

"man kann sich sehr wohl eine reine grausamkeit, ohne zerreißung des fleisches, vorstellen. und was ist denn, philosophisch gesprochen, grausamkeit? vom standpunkt des geistes aus bedeutet grausamkeit unerbittlichkeit, durchführung und erbarmungslose entschlossenheit, nicht umkehrbare, absolute determination. (...)

vor allem ist grausamkeit luzid, sie ist eine art unerbittliche führung, eine unterwerfung unter die notwendigkeit. keine grausamkeit ohne bewußtsein, ohne eine art von angewandtem bewußtsein. das bewußtsein verleiht der ausübung eines jeden lebensvorgangs seine blutfarbe, seine grausame nuance, ist doch das leben eingestandenermaßen stets jemandes tod."
(antonin artaud)


seit 2000 dokumentiere ich in exakter lebensgröße und ausschließlich nach modell das äußere des menschlichen körpers in fluchtpunktloser perspektive.

seit 2003 stelle ich in installation relevante bildmaterialien vor. so in der ausstellung seiten medizinischer fachliteratur.

seit 2004 untersuche ich das innere des toten menschlichen körpers in anatomischer sektion.

kunst ist zweckgebunden. sie zielt auf die aufwertung des lebens.

als künstler stehe ich in der traditionslinie von archaischer und antiker kunst. diese ist nach 500 jähriger  unterbrechung fortzusetzen.

für jede dokumentation/untersuchung müssen die geeigneten medien und techniken benutzt werden. keinem medium wird ein vorrang eingeräumt - so stelle ich in der installation "caput medusae" dieser ausstellung medizinische fotografie vor, die von mir unbearbeitet bleibt. wenn man diese fotografien aus ihrem erklärungs-zusammenhang innerhalb der publikation herausnimmt, wird die illusions- und verabredungs-zerstörerische - dabei jedoch zutiefst menschliche - kraft dieser bilddokumente deutlich.

da einige der ausgestellten ausrisse medizinischer fachliteratur von künstlern wie tuysmans oder kahrs als vorlagen für ihre bildproduktionen benutzt wurden, läßt sich im direkten vergleich auch der preis für "künstlerische" kompatibelmachung ausmachen:  informations- und komplexions-verlust.

diesen verlust nehme ich ebenso wenig hin wie wissenschaftler in ihren forschungen.

die künstler der heutigen zeit finden sich unter den wissenschaftlich arbeitenden und nach erkenntnis strebenden.

die unterschiede meiner und der medizinischen bildherstellung resultiert nicht aus einem kastendenken heraus, sondern aus der unterschiedlichen problemstellung. ich untersuche in der malerei den ganzen lebenden, unzerteilten menschlichen körper in direkter auseinandersetzung mit dem modell.

die versuchsanordung ist folgende:

auf einem podest fixiert sich ein lebender menschlicher körper in einer bestimmten position. diese position nimmt er für 20 - 60 minuten - über monate - immer wieder ein, bis die arbeit am bild abgeschlossen ist.

dabei durchläuft der körper verschiedene licht-, temperatur-  etc. verhältnisse in sich gleichfalls verändernden zuständen körperlichen befindens.

dieser körper wird von mir - dem untersuchenden - in einem manuellen scan-vorgang zweidimensional in exakter lebensgröße auf den bildgrund übertragen. perspektivlos.

zwischen mir und dem modell befinden sich horizontale und vertikale maßskalen.

mit ihnen vermesse ich den sich vor mir befindenen körper.

ich zeige die oberfläche dieses körpers mit aller möglichen genauigkeit und kongruenz.

die zeitlichkeit dieser malerei ist synthetisch: sie ist gleichermaßen teil der biographien des modells und des malers.

und diese malerei zeigt den skandal des sich verflüchtigenden menschlichen körpers - dieser potentiellen leiche.

begehrenswerter als die dokumentation des körpers ist die erhaltung des körpers: zahlreiche versuche wurden unternommen: ägyptische mumifizierungstechniken, artauds versuch sich einen neuen funktionierenden körper zu schaffen, heutige biologische forschungen.

"denn ohne körper kann man nicht existieren..." antonin artaud

ist eine re-ägyptisierung unserer kultur – IM KONKRETEN – möglich?

im sektionssaal liegen blasse formaldehyd-durchtränkte leichen mit plastikfolien bedeckt auf modernen metalltischen.

in der anatomischen sektion wird wissen erworben durch fortschreitende zergliederung und zerstörung des gesamten leichenkörpers als auch der herauspräperierung einzelner körperteile desselben.

das am toten zergliederten körper gewonnene wissen soll verständnis für den aufbau und die funktionszusammenhänge des lebenden menschlichen körpers schaffen.

die auszubildenden sollen lernen, ihr theoretisch - anhand von texten, gezeichneten und fotografierten abbildungen (aus atlanten), röntgenaufnahmen, computertomographien und plastischen modellen - erworbene wissen  auf die wirklichkeit eines konkreten lebenden menschlichen körpers zu beziehen.

was nur möglich ist im bewußtsein der differenz zwischen bild, plastischem modell, totem formaldehydgetränkten körper und der norm auf der einen  sowie eben diesem konkreten lebenden körper auf der anderen seite.

"... - und dann angst zu sterben, der buckel auf dem armrücken - angst vor schmerzen, die ganz imaginär bleiben und mich manchmal abends überfallen - diese bedrohung, endgültig, ein für alle mal ausgelöscht zu werden, das kann doch keiner überhaupt sich vorstellen -" rolf dieter brinkmann

funktioniert die kryonische kälte? funktioniert die einem amerikaner angenähte fremde hand? funktioniert meine malerei?warum zerschneide ich nicht fleisch - das fleisch - selbst?!

 

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